Vom Sezieren gesellschaftlicher Artikulationen
Julia Heunemann, 2018
„Heute ist ein Tag der Trauer, es ist ein schwarzer Tag.“ Mit diesen Worten beginnt der vielstimmige Monolog, den Silke Schwarz in minutiöser Kleinarbeit aus der Katastrophenberichterstattung im deutschsprachigen Fernsehen herausseziert hat. Die konzertierte Folge von dramatischen Phrasen wie dieser ist über 20 kreisförmig im Raum hängende Kopfhörer zu vernehmen. Von außen betrachtet lässt sich an den Reaktionen der Zuhörenden eine außerordentlich kollektive Dynamik ablesen, die die Audioinstallation „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ (2016) entwickelt.
Einmal in den Kreis eingetreten, lassen sich kontextlose Satzbausteine vernehmen: „Die Menschen, die sind fassungslos, wortlos, sprachlos, atemlos“, sie verspüren „tiefstes Mitgefühl, [sind] tief bewegt“. Doch was hier eigentlich als „monströs, verheerend, unfassbar tragisch“ beschrieben wird, bleibt offen. Da die konkreten Unglücksfälle zur Leerstelle der Audioinstallation werden, können sich Fragen danach entwickeln, auf welche Weise Katastrophen erst durch die Berichterstattung als gesellschaftliche Ereignisse (mit-)produziert werden. Zumal liefert die sich an ihr entzündende Betroffenheit erst die Möglichkeit gemeinschaftlicher Bewältigung von Trauer. Wie im Chor griechischer Tragödien changiert die Verarbeitung von Geschehenem hier zwischen individueller und kollektiver Rezeption und Wiedergabe. Die dabei aufgerufenen Grenzen beim Ausdruck von Betroffenheit, die allzu geläufige Sprachlosigkeit im Angesicht von Leid kondensieren in formelhaften Worthülsen, die zwischen Erhöhung und Banalisierung das Katastrophische zum Allgegenwärtigen werden lassen.
Silke Schwarz ist eine präzise Beobachterin medial geprägter Umgebungen. Minutiös und kompromisslos erforscht sie bewegte wie unbewegte Bilder, Objekte und Sprache, allesamt Ausschnitte des täglichen Lebens, um die vielschichtigen Facetten gesellschaftlicher, oft politisch relevanter Prozesse zu dekonstruieren und offenzulegen. Um an ihr Material aus Werbung, politischen Reden oder der TV-Berichterstattung heranzutreten, setzt die Künstlerin auf klassische Montagetechniken der Überlagerung, Vervielfältigung und Wiederholung. Die dabei evozierten Verzerrungen entlarven diese formalen Techniken dabei selbst als wirksame Analyseinstrumente und schärfen die Wahrnehmung alltäglicher Situationen: Immer wieder konfrontieren die multimedialen Installationen und Videoarbeiten von Silke Schwarz anhand von beiläufig erscheinenden Details aktuelle Debatten mit politischer Tragweite und die sich daran knüpfenden Diskurse. Mittels performativer und partizipativer Elemente erkunden und entwickeln ihre Arbeiten kollektive Dynamiken und moralisieren dabei gerade nicht. Das von ihnen provozierte Unbehagen, das gleichwohl kritische Auseinandersetzungen in Gang setzt, beruht vielmehr auf einem unterschwelligen, zuweilen messerscharfen Humor, der den Irrwitz des Alltäglichen vor Augen führt. Häufig sind es die besonderen Rezeptionssituationen, in die Silke Schwarz ihr Publikum versetzt, welche es vermögen, vielschichtige Betrachtungsweisen auf ihr Ausgangsmaterial subtil freizulegen. Etwa durch den provozierten kontinuierlichen Blick auf ihren eigenen Körper.
In der Videoarbeit „Schwarz auf Gold“ (2018) steht die Künstlerin in einem goldfarbenen Ganzkörperanzug auf einem vibrierenden Podest, einem Fitnessgerät zur Anregung der Tiefenmuskulatur. Das unausgesprochene Versprechen der Vibrationsplattenhersteller*innen, physische Ergebnisse ohne körperliche Anstrengung zu gewährleisten, wird kontrastiert von der Frage, die sich Silke Schwarz mit zitternder Hand auf den Körper schreibt: „UND – KANNST DU DAVON LEBEN?“ Diese Frage, die oft genug gerade jene Menschen umtreibt, die am meisten geben, spielt, indem sie Kunst diskursiv in einen Leistungszusammenhang stellt, auf den Marktwert der Person auf dem Podest an. Dem damit aufgerufenen Verhältnis zwischen Einsatz und Erfolg – und der Frage danach, wie beides zu bemessen sei – begegnet die Künstlerin mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck, der eine Projektionsfläche für eine ganze Bandbreite möglicher Antworten liefert.
Während Silke Schwarz hier ihren eigenen Körper zum Spielfeld von Problematiken der Selbstoptimierung werden lässt, bindet sie in anderen Arbeiten die Körper ihres Publikums ein. So in der raumgreifenden Installation „Ode und Ich“ (2018). Mehr als ein Dutzend schwarze, mit Kopfhörern versehene Yogamatten liegen in Reih und Glied vor einigen Monitoren. Auf ihnen laufen mit kreisenden, wirbelnden, zu Linien gedehnten Punkten auf schwarzem Grund gängige Bildschirmschoner ab, während auf die Wand hinter ihnen die kurze, geloopte Sequenz einer Kamerafahrt entlang eines Waldwegs projiziert wird. Über die Kopfhörer sind Versatzstücke von Tonaufnahmen zu hören: Auszüge aus politischen Reden und geführten Meditationen, Anmerkungen zu chirurgischer Körpermodellierung, Motivationsmantren, Kochrezepte oder Musik – allesamt verknüpft mit der latenten Aufforderung, zu handeln, sich zu verhalten, vorgesehene Effekte zu verspüren, Stellung zu beziehen. Der akustische Overload steht den monotonen visuellen Informationen der Installation nur vermeintlich gegenüber, muten doch die Bildschirmschoner wie auch der geloopte Waldweg eher psychedelisch als entspannend an. Silke Schwarz lässt ihr Publikum hier an einer permanenten Reizüberflutung partizipieren, in der sich die bloße Möglichkeit eines auch nur temporären Austretens aus Leistungszusammenhängen als illusorisch erweist. Situativ und auf geradezu immersive Weise werden damit kollektive und individualistische Begehrensstrukturen erfahrbar, die aus Politiken und Körperbildern einer Gesellschaft resultieren, die sich neoliberalen Prinzipien verschrieben hat.
Körperlich involviert ist auch das Publikum der eingangs erwähnten Audioinstallation „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Im Kreis der temporären wie zufälligen Schicksalsgemeinschaft entlädt sich die Bewältigung der einzeln und doch gemeinsam vernommenen Worte des Leids in Minen und Gesten, in gegenseitig sich zugeworfenen Blicken – und oft genug schließlich im Humor der kritischen Masse. Die formale Zurückhaltung von Silke Schwarz‘ Audioinstallation eröffnet damit einen Raum für kollektive Erfahrung mit verblüffender Dynamik; einen Ausschnitt gesellschaftlicher Artikulation.
Julia Heunemann ist Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin und lebt in Berlin.